150 Jahre Erstbesteigung Matterhorn
“Wäre das Seil am Matterhorn nicht gerissen, würde ich nicht existieren.”
Matthias Taugwalder spricht nüchtern über den berühmten Bergsteiger-Unfall vor genau 150 Jahren, der nichts weniger als seine Existenz hätte auslöschen können. Der Schweizer Fotograf kauert in einem baufälligen Holzhaus unterhalb des Walliser Bergdorfs Zermatt und betrachtet den alten und verschimmelten Ofen, die Betten und einen Schreibtisch, die einst seinem Ur-Urgrossvater gehört hatten.
Hier entschloss sich Peter Taugwalder Junior, nach einem halben Jahrhundert des Nachsinnens, einen Augenzeugenbericht über die tragische Erstbesteigung des 4478 Meter hohen Matterhorns im Jahr 1865 zu schreiben.
Für den 34-Jährigen Matthias Taugwalder, Nachkomme von Peter Junior und Zermatter Bürger, war das letzte Jahr geprägt von seinem Versuch, mehr Licht in das alte Geheimnis eines gerissenen Seils zu bringen. In Erwartung des 150-Jahr-Jubiläums der historischen Erstbesteigung vom 14. Juli 1865 verwandelte Taugwalder seine Leidenschaft für die Panorama-Fotografie und Multimedia-Geschichten in etwas, was eher der Arbeit eines Detektivs gleicht.
Er durchforschte das Staatsarchiv und jedes Stück Papier, das er finden konnte, um die Abfolge jener Ereignisse besser zu verstehen, die dazu führten, dass die beiden Zermatter Bergführer Vater und Sohn Peter Taugwalder sowie der britische Bergsteiger Edward Whymper die einzigen Überlebenden der Erstbesteigung waren. Als das gerissene Seil sie rettete, war der jüngere Taugwalder erst in seinen frühen 20er-Jahren – und noch nicht Vater. “Wenn das Seil bei der ersten Besteigung nicht gerissen wäre, würde ich wahrscheinlich nicht existieren”, sagt Ur-Urenkel Matthias.
Taugwalder, der in Zermatt aufgewachsen ist, sog die Familiengeschichte auf und fühlte bereits in jungen Jahren den Stolz und die Stigmatisierung seiner Vorfahren über die tragische Erstbesteigung. Der seelische Schmerz wegen der Tragödie beim Abstieg war eine Bürde, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde.
Es herrschte ein Gefühl der Ungerechtigkeit, besonders in der Gemeinde, dass die Version der Ereignisse, wie sie die Taugwalders schilderten, übergangen worden sei. Doch niemand traute sich damals zu reden. Aus Angst, die noch in den Kinderschuhen steckende Tourismus-Industrie zu behindern, die durch die historische Besteigung eben erst entfesselt worden war.
Als Kind verkaufte Matthias bei den wiederkehrenden Feierlichkeiten Erinnerungs-Pins jener Besteigung, die den Kultberg, das Dorf und ihren Familiennamen unauslöschlich brandmarkte. Als ihn ein Journalist des damaligen Radios DRS (heute SRF) einmal fragte, was er über diese Geschichte denke, fiel ihm keine Antwort ein.
Heute hat er viel mehr zu sagen: “Die Öffentlichkeit kennt nur Whympers Version der Geschichte, die quasi als offizielle Version der Erstbesteigung des Matterhorns gilt”, so Taugwalder. Dabei nimmt er Bezug auf Whympers beliebte Berichte des Aufstiegs in Büchern wie “Scrambles Amongst the Alps” und dessen Erklärungen gegenüber der englischen Presse, die sich im Laufe der Zeit widersprachen und immer umfangreicher wurden. “Da fragte ich mich, ob meine Vorfahren wirklich keine Möglichkeit hatten, ihre Geschichte zu erzählen.”
Taugwalder ging es auch darum, den Ruf seiner Familie zu rehabilitieren, die lange unter der öffentlichen Faszination, Spekulationen in der Presse und Schuldzuweisungen litt. Seine Anstrengungen spiegeln das Gefühl in Bergdorf Zermatt, nun sei die Zeit gekommen, die Leistungen der Taugwalders stärker zu honorieren.
Lord Douglas’ Leiche wurde bis heute nicht gefunden.
Schon lange gilt als gesichert, dass der unerfahrenste Bergsteiger der Siebnergruppe, der Brite Douglas Hadow, ausrutschte und stürzte. Dabei riss er Reverend Charles Hudson, Lord Francis Douglas und den Bergführer Michel Croz aus dem französischen Chamonix, den letzten Mann am Seil, mit sich in den Tod. Lord Douglas’ Leiche wurde bis heute nicht gefunden.
Weniger klar ist, warum das dünne Kletterseil aus Manilahanf zwischen Douglas und seinem Bergführer, Taugwalder Senior, der sich an einem Stück Seil und dem Fels retten konnte, gerissen war. Doch auch das dickere Seil, das sie mitführten, wäre laut neusten Untersuchungen gerissen. Whymper war angeseilt zwischen Taugwalder Vater und Sohn, der sich am Anfang des Seils befand. “Sie retteten Whymper das Leben”, sagt Matthias.
Sein Cousin Josef (50) und dessen Sohn David (23) helfen auch mit, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Sie sind ungefähr im gleichen Alter wie das Vater-Sohn-Gespann ihrer Vorfahren bei der Erstbesteigung und spielen diesen Sommer in Zermatt in einem Freilicht-Theaterstück die beiden berühmten Bergführer.
Auch das Schweizer Fernsehen SRF zeigte mit “Tatort Matterhorn” einen dokumentarischen Zweiteiler in bester Krimi-Manier, um endlich Licht in das ungelöste Rätsel zu bingen. Mit Mitteln der neuesten wissenschaftlichen Gerichtmedizin kamen die Autoren der Dokumentation zum Schluss, dass Whymper beim Aufstieg das dickere Seil zerschnitten hatte, um als Erster den Gipfel zu erreichen. Deshalb musste beim Abstieg auf das dünnere Reserveseil zurückgegriffen werden – mit den bekannten katastrophalen Folgen.
Auch wenn offizielle Untersuchungen sie von allem Verdacht freisprachen, meinte es die Geschichte nicht gut mit den Taugwalders. Die traurige Berühmtheit ruinierte Taugwalder Senior fast das Leben und bedrohte die Bergsteiger-Karriere seines Sohns. Whymper trat als – wenn auch verfolgter – Held hervor. Dies vor allem dank seinen eigennützigen Erzählungen.
“Ich will Sie nicht mit Details unseres Abstiegs belasten. Es reicht zu sagen, dass ich während mehr als zwei Stunden danach dachte, jeder Moment könnte mein letzter sein. Die beiden Taugwalders, vollkommen entnervt, weinten wie Kleinkinder und zitterten derart, dass sie uns mit dem Schicksal der anderen bedrohten.” Dies schrieb Whymper dem Schweizer Geologen und Alpinisten Edmund von Fellenberg zwei Wochen nach der Erstbesteigung. Er weigerte sich, jegliche Verantwortung für die Tragödie zu übernehmen.
“Ein einziger Ausrutscher oder ein falscher Schritt war der Grund für all dieses Elend.” In seinen ersten Berichten allerdings hatte Whymper erklärt, den Bergführern Taugwalder könnten überhaupt keine Vorwürfe gemacht werden.
Erst ein halbes Jahrhundert später lieferte Taugwalder Junior einen schriftlichen Bericht über den Unfall ab, in dem er betonte, es sei Whymper gewesen, der von den Ereignissen emotional überlastet gewesen sei.
“Man kann sich denken, wie uns zu Mute war. Vor Schreck konnten wir uns eine Zeitlang nicht mehr rühren. Endlich probierten wir vorwärts zu kommen. Doch Whymper zitterte, dass er kaum einen sicheren Schritt tun konnte. Mein Vater stieg voraus, kehrte immer wieder um und setzte von Whymper die Beine in die Felsabsätze. Oft und oft mussten wir Halt machen und uns erholen, denn es war uns nicht wohl zu Mute”, schrieb Taugwalder Junior laut Original-Dokumenten, die Matthias Taugwalder aufgestöbert hat.
Woraus besteht ein Seil?
Kletterseile bestanden zu jener Zeit aus Naturfasern wie Manilahanf, Flachs oder Seide. Sie wurden hauptsächlich dazu benutzt, einen zweiten Bergsteiger hochzuziehen. Es wurde dringend davon abgeraten, sich in solche Seile fallen zu lassen.
Heutige Seile bestehen aus Nylon und haben einen so genannten Kernmantel-Aufbau, der aus einem Kern und einer schützenden Ummantelung besteht. Die während des Zweiten Weltkriegs entwickelten Seile sind viel stärker und langlebiger, in verschiedenen Durchmessern erhältlich und in der Regel einfach zu handhaben. Sie können sich ausdehnen, um Stürze abzufedern, ähnlich einem Stossdämpfer.
Schweizer Experten und Behördenvertreter haben in den letzten Jahren zahlreiche Tests durchgeführt, um herauszufinden, was bei der Erstbesteigung schief gelaufen sein könnte.
Zum 140-Jahre-Jubiläum der Matterhorn-Erstbesteigung testete der Schweizer Bergausrüstungs-Hersteller Mammut ein ähnlich aufgebautes Seil wie jenes, das bei der Katastrophe gerissen war. Demnach sei dieses bei einer Belastung von 300 Kilogramm gerissen, was etwa dem Gewicht von vier erwachsenen Männern entspricht. Gemäss dem Test war es also eher ein Unfall, und nicht ein mutwillig durchtrenntes Seil.
Eine Hälfte des gerissenen Seils wird heute im Matterhorn Museum in Zermatt gezeigt. Das Seil hatten die Männer nur als Ersatzseil mitgenommen. Es war etwa halb so dick und viel schwächer als die anderen beiden vom Londoner “Alpine Club” entwickelten Seile auf der Klettertour.
Die Suche nach der Wahrheit
Mit seiner schlanken Statur und ernsthaftem Auftreten entspricht Matthias Taugwalder dem Profil eines modernen Technologie-Enthusiasten. In seiner Zürcher Wohnung, wo er mit seiner Frau lebt, stehen im Büro zahlreiche Bildschirme und eine massive Harddisk, auf der er seine digitalen Schöpfungen speichert.
Im pionierhaften und unternehmerischen Sinn und Geist seiner Vorfahren begab er sich auf eine “Heldenreise”, wie er selber seine Verwandlung nennt. Er trieb sich voran, um sich langsam von einem übergewichtigen Computer-Nerd mit einer Vorliebe für Virtual Reality zu einem hart arbeitenden Bergsteiger zu entwickeln, der heute gemeinsam mit einigen der Top-Namen der Outdoor-Branche Bilder von sehr exponierten Stellen schiesst. Dafür musste er mindestens 15 Kilogramm abnehmen.
Einer seiner Cousins, der 51-jährige Gianni Mazzone, auch er ein direkter Nachfahre der Bergführer Taugwalder, griff ihm über die mehreren Jahre seiner Verwandlung unter die Arme. Die Familie Taugwalder steht für eine Bergführer-Kultur, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tief in Zermatt verwurzelt ist. Mazzone, ein ehemaliger Präsident des Bergführervereins Zermatt, führt die Familientradition weiter. Er hat bereits etwa 300 Führungen auf das Matterhorn geleitet.
Seine Recherchen brachten ihn in verschiedene Teile der Schweiz und Grossbritanniens, wie auch in internationale Archive. In den britischen Nationalarchiven entdeckte er schliesslich die Originalversion des Briefes seines Ur-Urgrossvaters Peter Taugwalder Junior, der nie zuvor veröffentlicht worden war. Lediglich eine englische Version, die dem Londoner “Alpine Club” gehört, war bisher publiziert worden. Aus dieser englischen Übersetzung war eine Deutsche gemacht worden. Doch niemand hatte sich die Mühe genommen, diese Version mit dem deutschen Originalbrief zu vergleichen.
Matthias Taugwalder fand auch eine bisher unbekannte Kurzbeschreibung des Unfalls durch einen Zermatter Priester sowie Einwanderungspapiere der USA, die neue Daten über Peter Taugwalder Senior lieferten. Dieser hatte das Land mit einem seiner Söhne, Friedrich, besucht, der 1899 US-Bürger wurde.
Der Priester war besorgt über “die Brutalität des Alpinismus”, wies aber niemandem die Schuld zu. Für Taugwalder interessant ist, dass diese Bemerkung in einem späteren Kompendium der Schriften des Priesters weggelassen wurde.
Aus den US-Dokumenten will er herausgelesen haben, dass Taugwalder Senior der traurigen Berühmtheit entkommen wollte, die sein Leben ruiniert hatte, und vielleicht seinem jungen Sohn Friedrich – der den tödlichen Sturz der vier Männer mit einem Fernrohr mit angesehen haben soll – die Chance für ein neues Leben geben wollte.
Auch wenn er ein direkter Nachkomme und Zweifler von Whympers Version der Ereignisse bei der Erstbesteigung ist, ging Taugwalder für jemand mit einer derart starken persönlichen Betroffenheit ziemlich objektiv an die Arbeit. Der Geschichtenerzähler in ihm wusste, dass er zurückstehen musste, damit andere ihre eigenen Schlüsse ziehen konnten, warum das Seil zu Schaden kam, nachdem Hadow ausgerutscht war.
Doch es ging ihm eigentlich nicht um eine Sensationsnachricht. Schliesslich weise sein amateurhafter Versuch im Journalismus lediglich auf den Mangel hin, Originaldokumente auszuwerten. Die letzte Wahrheit über die Erstbesteigung sei nicht zu finden, nur miteinander im Wettbewerb stehende Versionen davon. Matthias ist aber überzeugt davon, dass die Taugwalders höchstwahrscheinlich Whympers Leben gerettet haben, und dass sie es ganz sicher nicht verdienten, verhöhnt oder verunglimpft zu werden.
Ein beflecktes Familienerbe
“Unter den Nachkommen der Taugwalders herrscht das Gefühl, dass etwas nicht stimmt.”
Und immer wieder zieht es die Taugwalders an den Berg. Für seine dritte Besteigung des Matterhorns trainierte Matthias mit Gianni Mazzone. Dieses Mal will er die erste umfassende Foto-Dokumentation der Absturzstelle anlegen.
Bei seinen Trainings-Kletterpartien wurde klar, dass er und Mazzone unzählige Stunden über das Schicksal ihrer bahnbrechenden, wenn auch missverstandenen Ahnen und über den berühmten Unfall gegrübelt hatten. Wer Zeit mit ihnen verbringt, merkt, dass die Bürde der Erstbesteigung weiterlebt. Jeder der beiden ist auf seine Art getrieben, ein beflecktes Familienerbe zu überwinden.
Wer Mazzone bei seiner Arbeit mit Kunden am Berg beobachtet, versteht, warum sein Ur-Urgrossvater das Seil vor dem Unfall vermutlich um einen Felsen geschlauft hatte. Es ist der Instinkt eines Bergführers, seine Seilschaft immer zu sichern.
Als das Seil unerwartet riss, hätte diese Bewegung drei Menschenleben gerettet. So stellen sich Mazzone und Taugwalder das Ereignis vor. Doch warum sind die Taugwalders in der Schweiz nicht als Nationalhelden bekannt, welche die Erstbesteigung des Symbolberges der Schweiz geschafft – und überlebt – haben? Diese Frage hängt weiterhin über der Familie, und über viele andere im Tal ebenfalls.
“Unter den Nachkommen der Taugwalders herrscht das Gefühl, dass etwas nicht stimmt”, sagte Matthias Mitte Juni bei einer Trainingswanderung am Gornergrat bei Zermatt. “Und viele Leute in Zermatt sind der gleichen Meinung.”
Übersetzung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
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