Außenminister des kleinen Balkanlandes steht im Visier der internationalen Justiz
welt.de
Außenminister droht ein Prozess wegen Kriegsverbrechen
Enver Robelli, Pristina
Um Hindernisse zu umgehen, bewegt sich die Schlange gewöhnlich in Windungen. Nicht nur in der Mythologie wird sie als doppelzüngig und gefährlich beschrieben. Das Kriechtier wächst lebenslang und besitzt die Fähigkeit, die alte Haut abzustreifen, um mit einer neuen Schicht wie neugeboren aufzutreten. Während des Kosovo-Krieges trug der damalige Rebellenführer Hashim Thaci den Kampfnamen “Gjarpri”, die Schlange, weil er es vermochte, keine Spuren zu hinterlassen. Nun, 16 Jahre nach Kriegsende, holt ihn die dunkle Vergangenheit ein.
Der langjährige Ministerpräsident und derzeitige Außenminister des kleinen Balkanlandes steht im Visier der internationalen Justiz. Er soll zusammen mit der Führungsriege der kosovarischen Befreiungsarmee UCK Kriegsverbrechen an Serben, Roma und “albanischen Kollaborateuren” begangen haben. Sogar vom Organhandel ist die Rede.
Droht Thaci eine Anklage?
Diese Woche hat für Thaci und auch für Kosovo ein neues Zeitalter begonnen: Nach monatelanger Weigerung stimmte das Parlament in der Hauptstadt Pristina zähneknirschend der Gründung eines Sondertribunals zu, das Untaten der Aufständischen aufklären soll. Vermutlich Anfang 2016 werden die ersten Anklageschriften eintreffen. Schon jetzt geht es in den Kaffeehäusern von Pristina wie in einem Agentenfilm zu. Die Hauptfrage unter den einheimischen Politikern, Diplomaten und abgebrühten Geheimdienstlern lautet: Befindet sich auch Thaci, der frühere Politkommissar der UCK, unter den Angeklagten?
Vorwürfe gegen ihn gibt es zuhauf, bewiesen ist davon bislang nichts. Der Bundesnachrichtendienst (BND) behauptet, Thaci habe Morde in Auftrag gegeben. Die frühere UNO-Chefanklägerin Carla Del Ponte schrieb in ihren Erinnerungen, die UCK habe Minderheiten terrorisiert. In einem vom Schweizer Politiker Dick Marty formulierten Bericht für den Europarat heißt es, Thaci sei der “Boss” einer mafiaähnlichen Organisation, die in schlimmste Kriegsverbrechen und in Drogenhandel verwickelt gewesen sei. Die Indizien waren so erdrückend, dass die EU und die USA handeln mussten. Sie beauftragten einen US-Ermittler, der den Vorwürfen nachgehen sollte. Dieser stellte fest, dass es genügend Beweise gebe, um mehrere hochrangige UCK-Führer anzuklagen.
Foto: REUTERS Ein deutscher Kfor-Soldat im November 2007: Die Bundeswehr half im Rahmen der Nato-geführten Friedensmission bei der Sicherung des Waffenstillstandes vor Ort. Wenig später erklärte das Kosovo seine Unabhängigkeit
Bisher ist es dem UN-Tribunal für das frühere Jugoslawien, der UN-Verwaltung und der EU-Rechtsstaatsmission in Kosovo nicht gelungen, die Spitzenleute der UCK strafrechtlich zu belangen. Internationale Ermittler geben meist zwei Gründe an für das Scheitern der Justiz: Die Mauer des Schweigens sei so undurchdringlich wie beim Verbrechersyndikat Cosa Nostra und die federführenden westlichen Mächte hätten sich mit der herrschenden Elite abgefunden. Wie aber konnte es so weit kommen?
Seit Kriegsende hat Thaci mit seiner Demokratischen Partei (PDK) Schritt für Schritt das ganze politische und wirtschaftliche System unterwandert – mit Verwandten, Mitgliedern des berüchtigten UCK-Geheimdienstes SHIK und treuen Parteisoldaten. Als im Sommer 1999 die Nato nach der Kapitulation des serbischen Terrorregimes in Kosovo einmarschierte, um die Rückkehr der Vertriebenen zu ermöglichen und die Minderheiten vor Racheaktionen der Albaner zu schützen, übernahmen Thacis Leute sofort das Tankstellennetz. Noch heute ist der Treibstoff in Kosovo etwa zehn Prozent teurer als im benachbarten Mazedonien. Aus dieser Quelle sollen mittlerweile über 800 Millionen Euro in die Kassen der UCK-Leute geflossen sein.
Foto: ja Im serbischen Norden des Kosovo, am Fuß der Brücke von Mitrovica, ist der Asphalt aufgerissen: Eine Überfahrt in den albanischen Teil ist nicht erwünscht
Die wichtigsten Unternehmen des Landes – die Post, das Mobiltelefonnetz, die Trepca-Mine, in der nach Blei, Zink und Silber geschürft wird, das Elektrizitätswerk – befinden sich in den Händen von Thacis Vertrauten. Die Vergabe der öffentlichen Aufträge verläuft intransparent, was wiederum Korruption erleichtert. Die neue Autobahn, die von der US-Firma Bechtel gebaut wurde und Kosovo mit Albanien verbindet, kostete offenbar etwa eine Milliarde Euro. Zum Vergleich: Der Staatshaushalt des Kosovo beträgt rund 1,5 Milliarden Euro. Trotz Protesten aus der Zivilgesellschaft weigert sich die Regierung bis heute, den Vertrag für das 120 Kilometer lange Asphaltband publik zu machen, obwohl sie dazu gesetzlich verpflichtet ist.
Die Folgen dieser Politik bezeichnen Wirtschaftsexperten als fatal für die unmittelbare Zukunft des 1,8 Millionen Einwohner zählenden Landes. Kosovo, erst seit 2008 unabhängig, hat die jüngste Bevölkerung Europas. Fast eine halbe Million Kosovaren unter 25 sind arbeitslos. Jedes Jahr drängen 30.000 Jugendliche neu auf den Arbeitsmarkt, der im Prinzip kaum existiert.
Um zu verhindern, dass der soziale Friede auseinanderbricht, haben die Machthaber die Gründung von über 30 Privatuniversitäten zugelassen, damit die Jugendlichen wenigstens eine Freizeitbeschäftigung haben. Mehr können sie von diesen Bildungskooperativen nicht erwarten. Das öffentliche Gesundheitswesen steht vor dem Kollaps, dafür dürfen einheimische Ärzte, türkische Medizinabenteurer und mazedonische Delinquenten Privatkrankenhäuser eröffnen.
400.000 unbearbeitete Fälle
Geradezu hoffnungslos ist die Situation im Justizbereich. Kein einheimischer Richter hat den Mut gegen hochrangige Politiker von Thacis Partei vorzugehen. Die internationale Justiz steht vor einem riesigen Berg von nahezu 400.000 unbearbeiteten Gerichtsfällen. Außerdem sieht sich die EU-Rechtsstaatlichkeitsmission (Eulex), die dem Kosovo beim Aufbau der Polizei, Justiz und der Verwaltung helfen soll, selbst mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert. Ein italienischer Staatsanwalt in Eulex-Diensten soll kosovarische Politiker vor Ermittlungen verschont und dafür im Gegenzug Geld kassiert haben.
Ein ähnlich dunkles Thema ist der Zeugenschutz. Immer wieder kommt es im Kosovo zu mysteriösen Todesfällen oder Mordanschlägen, bevor Zeugen vor Gericht aussagen können. Seit 1999 sind viele Beweise vernichtet worden. Als in der vergangenen Woche die Abgeordneten für die Gründung des Sondertribunals stimmten, sagte Parlamentspräsident Kadri Veseli, der frühere Geheimdienstchef der UCK, man werde “sehr bald erfahren”, wer die Zeugen gegen Thaci seien.
Kein westlicher Diplomat protestierte gegen diese unverhohlene Drohung. Thaci gilt immer noch als Partner des Westens, der die Lage unter Kontrolle hält, mit Serbien über eine Normalisierung des Verhältnisses verhandelt und Zugeständnisse macht, die Kosovo zu einem funktionsunfähigen Staat machen sollen. Das Ziel, das Pristina dabei verfolgt, ist die Annäherung an die EU. Dazu gehört die Zusage, man werde einen kosovarisch-serbischen Gemeindeverbund im Norden des Landes akzeptieren. Die serbischen Kommunen im Kosovo gelten als einer der größten Stolpersteine auf dem Weg zu einer Entspannung mit Belgrad. Sie werden nach wie vor aus Belgrad finanziert und greifen auf eigene Sicherheits- und Verwaltungsstrukturen zurück.
Foto: ja Eigentlich verbinden Brücken: Diese hier in Mitrovica aber trennt. Die Serben haben die Straße mit Bäumen und Rollrasen blockiert, sie bezeichnen die Anlage als “Friedenspark”
Angesichts der verworrenen Lage, Klientelpolitik und Korruption stimmen immer mehr Menschen mit den Füssen gegen den Staat ab. In den vergangenen zwölf Monaten haben etwa 100.000 Kosovaren ihre Heimat verlassen, um als Wirtschaftsflüchtlinge nach Westeuropa zu ziehen. In Deutschland sind nach den syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen die Kosovo-Albaner die zweitgrößte Gruppe, allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres haben 31.400 Kosovaren Asyl beantragt. Die Chance auf Bewilligung dieser Anträge ist gleich null, denn der Balkanstaat gilt im Vergleich zu Syrien als relativ sicheres Herkunftsland.
Es sind nicht nur die Habenichtse, welche dem Balkanland den Rücken kehren. Auch die ohnehin überschaubare Mittelschicht wird dünner. Familienväter, die seit 1999 für internationale Organisationen und Missionen vor Ort gearbeitet und eigentlich nicht schlecht verdient haben, sehen keine Zukunft mehr für ihre Kinder und packen ihre Sachen.
“Wir haben nach dem Krieg schreckliche Fehler begangen”, sagt einer der UCK-Gründer selbstkritisch. Seine Kampfgenossen seien inzwischen finanziell so mächtig, dass keine Opposition diese Fassadendemokratie zum Einsturz bringen könne, um darauf einen funktionsfähigen Staat aufzubauen. “Es braucht”, sagt der Insider, “eine neue politische Kraft, die dieses reiche Land mit vielen Bodenschätzen liebt, bereit ist, radikal mit der alten Klientel abzurechnen.”
Dieser Tag scheint fern zu sein für die meisten Kosovaren. Während Tausende in Richtung Westen aufbrechen, reist eine kleine Minderheit nach Syrien, um für das IS-Kalifat zu kämpfen. Zwei Dutzend kosovarische Dschihadisten haben dort bisher ihr Leben gelassen, über 200 sind nach Erkenntnissen von Sicherheitsdiensten in Syrien und im Irak unterwegs.
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